Was ist eigentlich aus dem Helferkreis Asyl Engen geworden?

von Jutta Pfitzenmaier

Was ist eigentlich aus dem Helferkreis Asyl Engen geworden?

Gibt es ihn noch?
Niemand hat die Bilder vom Spätsommer 2015 vergessen, als Tausende von Flüchtlinge in langen Kolonnen zu Fuß am Rande der Autobahn vom Balkan nach Deutschland zogen. Andere Asylsuchende kamen mit dem Zug über Österreich auf dem Münchner Hauptbahnhof an, oft nur mit einem Rucksack und den Kleidern, die sie am Leib trugen. Und sie wurden herzlich begrüßt von den Einheimischen. „Willkommenskultur“ wurde zum festen Begriff. Bundeskanzlerin Merkels berühmter Satz prägte die Zeit: „Wir schaffen das!“

Haben „wir“ es geschafft, über eine Million Asylsuchende zu integrieren? Kann man Menschen, die zumeist aus völlig fremden Kulturen in der Not zu uns kamen, überhaupt innerhalb von wenigen Jahren „integrieren“? Und was bedeutet „sich integrieren“? Die Muttersprache aufgeben? So verlangte ein bayrischer Politiker: „Ausländer sollen in der Familie nur noch Deutsch sprechen.“ Was für eine absurde Vorstellung! Und womöglich nur noch deutsches Speisen essen? Wo wir Einheimische doch Pizza, Börek, Tapas und chinesisches Essen lieben. Das Kopftuch ablegen, das die Frauen in muslimischen Ländern seit Jahrhunderten tragen? Es geistert also immer noch in vielen Köpfen herum, dass Asylsuchende ganz schnell ihre eigene Identität aufgeben und sich komplett anpassen sollen.

Wie entwickelte sich der Helferkreis Asyl Engen? 

Schon Anfang 2015 fanden sich viele engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammen. Beim ersten Treffen war der Saal im evangelischen Gemeindehaus übervoll. Der Helferkreis Asyl Engen wurde ins Leben gerufen und 50 bis 60 Menschen engagierten sich, um die angekündigten Flüchtlinge zu unterstützen. Sie bildeten die Gruppen Deutschkurse, Patenschaften, Kleiderkammer, Kinderbetreuung durch die Kinderwohnung Kunterbunt. Bald kam die Fahrradwerkstatt dazu, die gespendete Fahrräder vermittelte und reparieren half. Sie besteht heute noch während des Sommerhalbjahres.

Sprachkurse für Erwachsene

Jedem war klar: „Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zur Integration.“ Ohne Sprachkenntnisse findet man keinen Anschluss im fremden Land. Also fanden sich schnell bis zu 16 Einheimische bereit, die in kleinen Gruppen Deutsch unterrichteten, zuerst in der Gemeinschaftsunterkunft „Badischer Hof“, im evangelischen und katholischen Gemeindehaus oder auch privat. Jetzt sind noch vier tätig in der Gemeinschaftsunterkunft am Bahnhof Neuhausen-Welschingen, die 2016 bezogen wurde. Die meisten Asylsuchenden besuchen inzwischen Deutschkurse bei Institutionen in Singen, Radolfzell oder Konstanz oder haben ihre Kurse schon abgeschlossen. 

Wolfgang Kern, einer der Unterrichtenden, erzählt von seinen Erfahrungen: „Die Kurse bei der VHS und anderen Einrichtungen laufen mehr oder weniger gut: Zu viele Teilnehmer mit zu unterschiedlichen Vorkenntnissen, dichter Stoffplan, keine Zeit für lange Erklärungen, wenig Zeit für langsam Lernende.“ Dabei muss man wissen, dass in den Kursen Lernende aus EU-Ländern neben Menschen sitzen, die in ihrem Heimatland gar keine Schule besuchen konnten. Entsprechend hoch ist die Quote derjenigen, die das Kursziel nicht erreichen. Umso erfreulicher, dass manche Flüchtlinge die Sprachkurse zügig und erfolgreich absolvieren konnten. Allerdings garantiert auch dies keinen Arbeitsplatz, denn nicht selten sind die Vorbehalte groß, besonders gegen Frauen, die ein Kopftuch tragen. 

Wolfgang Kern fährt fort: „Wir haben in unseren ehrenamtlich durchgeführten Kursen den Vorteil: Wir müssen kein dichtes Pensum in einer bestimmten Zeit durcharbeiten, müssen keine Noten erteilen und keine Zertifikate ausstellen. Wir können uns daher Zeit lassen und auch andere Inhalte bearbeiten, also einfach individuell auf die Leute eingehen. Und wegen Covid dürfen wir sowieso maximal vier Teilnehmer im Kursraum unterrichten.“

Deutschlehrerin Jutta Pfitzenmaier fände einen anderen Weg als den in Deutschland eingeschlagenen effizienter: „Die zugewanderten Menschen müssten sehr schnell in Arbeit gebracht werden und begleitend dazu und ganz praxisbezogen einen Deutschkurs besuchen. Jetzt aber warten sie oft monatelang untätig auf einen Kurs, den sie dann weitere Monate lang besuchen und dessen Prüfung sie am Ende, wenn es schlecht läuft, nicht bestehen. Besonders Männer, die in ihrer Heimat als gestandene Handwerker gearbeitet haben, werden dadurch demotiviert. Andere scheinen das Gefühl zu entwickeln, dass es in Deutschland völlig normal ist, ohne Arbeit daheim zu sein und doch den ganzen Lebensunterhalt bezahlt zu bekommen.“ So ist der Deutschunterricht der Ehrenamtlichen vom Helferkreis viel mehr als nur Vermitteln der Sprache. Es ist vielmehr auch ein Vermitteln, wie unsere Gesellschaft funktioniert. 

Große Freude macht es den Helfern, wenn sie hören, dass ein afghanischer Mann, der beim ersten Kontakt vor vier Jahren keinen lateinischen Buchstaben schreiben konnte, nun die LKW-Führerscheinprüfung (auf Deutsch!) bestanden hat und in Arbeit ist oder dass zwei junge Frauen aus Syrien und dem Irak demnächst ihre Prüfung als pharmazeutisch-technische Assistentinnen ablegen werden. Hoffentlich werden auch sie Arbeit finden, auch mit Kopftuch.

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Schulunterricht für Kinder

Zum Glück konnten die zugewanderten Kinder schnell in den Schulen aufgenommen werden. Wolfgang Kern sieht dabei aber ein weiteres Problem: „Bei den Schülern in den Berufsschulen, aber auch in der Grundschule, in Realschule und Gymnasium, kommt es oft zu Überforderung. So sind nicht nur die Texte in Deutsch geschrieben, sondern auch auf den deutschen Kulturhintergrund zugeschnitten.“ Um Textaufgaben in Mathe zu verstehen, muss das Sprachverständnis schon sehr gut sein. Das wissen auch viele deutsche Kinder und ihre Eltern. Wieviel schwerer ist es gar im Fach Geschichte oder Geografie erfolgreich zu sein, wenn der kulturelle Hintergrund fehlt. Leider ist es dem Helferkreis Asyl Engen nicht gelungen, ein „Schüler helfen Schülern-Projekt“ wie in Singen auf die Beine zu stellen, denn im März kamen die Schulschließungen wegen Corona dazwischen.

Kontaktbeschränkungen im „Bahnhöfle“

In Zeiten der Kontaktbeschränkungen dürfen sich Ehrenamtliche und Flüchtlinge in der Gemeinschaftsunterkunft nur im Kursraum und nur zum Unterricht treffen. Jegliche Besuche einer Familie in ihrer Wohnung dort sind untersagt. Also gibt es keine Filmabende mehr und keine Fahrradwerkstatt. Umso erfreulicher, dass eine Familie aus Afghanistan mit dringend benötigten Möbeln versorgt werden konnte, denn die Drei-Zimmer-Wohnungen sind zwar fast neu, aber so spartanisch möbliert, dass die Familie mit fünf Kindern viele Sachen auf dem Boden stapeln musste.

Kleiderkammer

Die Kleiderkammer in der Jahnstraße neben dem Kindergarten Sonnenuhr wird aktuell umgebaut. Sie soll bald neu und in ansprechendem Ambiente eröffnet werden, und dann für alle bedürftigen Menschen der Stadt. Auch hier hat Corona die Aktivitäten ausgebremst.

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Café International

Seit Anfang 2016 organisierten Ulrike Heydenreich und Jutta Pfitzenmaier das „Café International“, zuerst nachmittags für die ganze Familie, dann als Frühstück für Frauen und später als „Café für Frauen am Abend“. Immer gab es ein Büffet, zu dem jede Frau eine landestypische Speise mitbrachte. So entstand eine wunderbare Vielfalt verschiedenster Düfte und Geschmacksrichtungen. Den ausländischen und einheimischen Frauen bot sich die Gelegenheit, einander in entspannter Atmosphäre kennen zu lernen. Ein Lied oder ein Tanz durfte nicht fehlen und immer wieder gab es eine kleine Darbietung, z.B. vom Kindercircus Casanietto, oder einen kurzen Vortrag, z.B. von der Narrenzunft Engen, von Pro Familia oder vom Roten Kreuz. Dabei lernten nicht nur die Zugewanderten, sondern auch die Einheimischen so manches, was sie vorher nicht gewusst hatten. Wegen der Corona-Pandemie fand das letzte Café im März 2020 statt. Danach war es nicht mehr möglich, aber immer noch werden die Organisatorinnen gefragt: „Wann macht ihr wieder ein Treffen? Wir wollen wieder zusammenkommen!“

Patenschaften

Die Gruppe der Paten im Helferkreis organisierte Ausflüge für die Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften, auf die Mainau, in den Tierpark Allensbach, ins Freilichtmuseum Neuhausen, zu den Petersfelstagen oder einfach zu einer Grillhütte in der Umgebung. Leider fanden sich im Lauf der letzten drei Jahre immer weniger Einheimische, die eine Patenschaft übernehmen wollten. Einer der Engagierten ist der pensionierte Lehrer John Loram, der eigentlich fünf Männer aus Eritrea in Deutsch unterrichten wollte, nun aber sehr viel mehr für sie macht. Er wurde zu einem echten Helfer in allen Lebenslagen. John Loram berichtet: „Aus meiner Erfahrung haben die Einwanderer Schwierigkeiten mit Behörden, Job-Center, Agentur für Arbeit, Inkasso-Firmen und mit amtlichen Schreiben vielfältiger Art. Sie verstehen vieles einfach nicht. Sie brauchen Helfer*innen, denen sie vertrauen und die bereit sind, mit ihnen Briefe und Bewerbungen zu schreiben, Telefonate zu führen, zum Rechtsanwalt, zum Arzt oder zu Ämtern zu gehen. Diese Art des Umgangs befördert das Erlernen der lebendigen Sprache viel mehr als jeder institutionelle Deutsch-Kurs. Da lernen sie so viel, besonders, lernen sie, Probleme selbst zu lösen. Damit wird ihre Selbstständigkeit gefördert. Nur so kann etwas ausgerichtet werden.“ Trotz der sicher nicht immer leichten Arbeit geht John Loram gern zu den fünf jungen Männern aus Eritrea, denn schon nach kurzer Zeit ist eine gute zwischenmenschliche Beziehung entstanden. Vielleicht war eine Motivation für Lorams Hilfsbereitschaft, dass er als gebürtiger Engländer weiß, wie schwer es ist, sich in einem fremden Land zurechtzufinden. Wie viel schwerer ist dies für Menschen aus einer ganz anderen Kultur als der europäischen.

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Länderabende führen zur Gründung der Begegnungsstätte „Engener Brücke“

Legendär waren die Länder-Abende in der Stadthalle mit 300 bis 400 Besuchern. Treibende Kräfte waren der damalige Integrationsbeauftragte der Stadt David Tchakoura und der Engener Wirtschaftsingenieur Ajmal Farman. An jedem Abend stellte eine Gruppe von Menschen, die in Engen leben, ihr Heimatland auf sehr unterhaltsame Weise vor. Natürlich durfte ein großes Büffet mit Spezialitäten nicht fehlen. Den Beginn machten die italienischen Mitbürger, es folgten Afghanistan, Ungarn, angelsächsische Länder, Syrien und andere mehr. Daraus entstand die Idee, den Verein „Unser buntes Engen“ zu gründen und in Engen eine Begegnungsstätte für alle ins Leben zu rufen. Einen Anschub bekam das Projekt durch das Preisgeld, als die Bürgergruppe beim bundesweiten Wettbewerb „Kommune bewegt die Welt“ den ersten Preis gewann. Das Ergebnis ist die Begegnungsstätte „Engener Brücke“ in der Peterstraße 1. Die feierliche Eröffnung fand am Tag der Demokratie am 19. September 2020 statt. Wegen der Corona-Pandemie ist die Begegnungsstätte zwar personell besetzt, durfte jedoch noch nicht für Besucher geöffnet werden. 

Das Falten von Origami-Kranichen ist ein erstes Projekt, das unter den derzeitigen Bedingungen durchführbar ist. In Japan stehen die Kraniche als Zeichen für ein langes und glückliches Leben. So sollen die Kraniche zu Neujahr in den Fenstern der „Engener Brücke“ aufgehängt werden.

Der „Helferkreis Asyl Engen“ ist nun als Untergruppe integriert in den Verein „Unser buntes Engen e.V.“.

Ungelöste Probleme: Arbeit und Wohnen

Ein großes Problem für Flüchtlinge ist nach wie vor, eine Arbeit zu finden. Am schwierigsten jedoch ist die Wohnungssuche. Der Helferkreis bemüht sich zu unterstützen, aber bezahlbare Wohnungen für Familien mit mehreren Kindern scheint es in Engen oder näherer Umgebung nicht zu geben. Oder sie werden nicht an Ausländer und schon gar nicht an muslimische vermietet oder sie werden überhaupt nicht vermietet, sondern stehen leer. In den letzten Jahren wurden in Engen viele Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen im Hochpreissegment gebaut, aber wo finden sich günstige Mietwohnungen für Familien von sechs bis acht Personen? Zu bedenken ist auch, dass diese Menschen nicht mehrere Autos besitzen, sondern auf den ÖPNV angewiesen sind. Es ist sehr schwer, einem wohnungssuchenden syrischen Familienvater zu erklären, dass es in Engen keine ausreichend große Wohnung für seine Familie gibt. Dabei möchten viele gerne in Engen wohnen bleiben.

Der Helferkreis Asyl Engen richtet einen dringenden Appell an Bürgerschaft, Stadtverwaltung und Gemeinderat, sich des Problems der Wohnungsnot anzunehmen.

Warum gibt es immer noch Leute, die im Helferkreis Asyl Engen mitarbeiten?

Zwar leisten die Ämter heute gute und umfangreiche Arbeit, um Asylsuchende in unsere Gesellschaft zu integrieren, aber doch kommen immer wieder Flüchtlinge hinzu, die sich sehr verloren hier vorkommen und sich über Unterstützung freuen. 

Außerdem muss man keineswegs zu den „Gutmenschen“ mit Helfersyndrom gehören, um es einfach spannend zu finden, Menschen aus fremden Ländern kennenzulernen, mehr über ihre Sprache, ihr Heimatland und ihre Sitten und Gebräuche zu erfahren. 

So wurden aus ersten Kontakten nicht selten engere Beziehungen und gar Freundschaften. Ob Integration gelungen ist, wird sich in 20 oder 30 Jahren zeigen. Heimweh wird aber bei den meisten Flüchtlingen trotz allem, was sie auf ihrem Weg nach Deutschland mitgemacht haben, bleiben.

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Engener Brücke verschiebt Öffnung